Die Sozialhilfe ist nicht armutsfest

197.000 Menschen beziehen Sozialhilfe

ein Beitrag von Josef Pürmayr

Mitte Oktober wurden von Statistik Austria die Sozialhilfedaten für 2023 veröffentlicht.

Im Jahresdurchschnitt waren knapp 197.000 Menschen in Österreich in Sozialhilfebezug. Das ist ein Anstieg um 3,7 % (7.015 Personen) gegenüber 2022. Auch die Ausgaben für die Sozialhilfe sind gestiegen, weil sich die Anzahl der Bezieher:innen erhöht hat und die Sozialhilfe im Gleichschritt mit der Erhöhung des Ausgleichszulagenrichtsatzes ebenfalls steigt. Das war einigen Medien - z.B. der Kronenzeitung – einen Aufreger wert. Die Kronenzeitung meinte, diese Entwicklung müsse „bei den Verantwortlichen die Alarmsirenen schrillen lassen“.

Das denke ich nicht. Die letzten krisenhaften Jahre haben insbesondere bei Menschen, die kein oder nur ein geringes Einkommen haben, kräftige Spuren hinterlassen. Sie haben es schwerer, ihre grundlegenden Existenzbedürfnisse abzudecken. In solchen Zeiten ist die Sozialhilfe besonders wichtig, die als letztes staatliches Sicherungsnetz die notwendigsten Leistungen bereitstellen soll, um menschenwürdig überleben zu können.

Sozialhilfe nicht armutsfest

Ich schreibe bewusst „soll“. Trotz gestiegener Ausgaben schafft sie das nicht ausreichend. Denn die Sozialhilfe ist nicht armutsfest.

Die Armutsgefährdungsschwelle nach EU-SILC liegt bei 1.572 Euro pro Monat, die Höhe der Sozialhilfe beträgt monatlich 1.156 Euro (jeweils für einen Einpersonenhaushalt).

Die Ausgaben für die Sozialhilfe betragen gerade einmal 0,25 % des Bruttoinlandsprodukts. Für Pensionsleistungen beträgt der Anteil 14,3 %. Ich will hier nicht groß gegenrechnen, aber auch auf Sozialhilfeleistung gibt es einen Rechtsanspruch, sie ist kein Almosen.

Blick auf Oberösterreich

Für die Sozialhilfe und die Mindestsicherung (2023 in Wien, Burgenland und Tirol) gibt es 9 unterschiedliche Landesgesetze mit unterschiedlicher Ausprägung der Leistungen. Es macht also einen Unterschied, ob man in Kärnten, Oberösterreich oder Salzburg auf die Sozialhilfe angewiesen ist. Es lohnt sich daher, hier genauer hinzuschauen. Ich habe das naheliegenderweise für Oberösterreich gemacht.

  • Entgegen dem Bundestrend ist in Oberösterreich die Anzahl der Sozialhilfebezieher:innen von 2022 auf 2023 gesunken, und zwar von 5.788 auf 5.370 Personen im Jahresdurchschnitt. Das ist ein markanter Rückgang von 7,2 %. Auch andere Bundesländer haben hier Reduktionen, in Oberösterreich fallen sie aber am höchsten aus.
  • Die durchschnittliche monatliche Sozialhilfeleistung pro Haushalt ist in OÖ mit 678 Euro die zweitniedrigste (nach dem Burgenland). Bei Familien mit Kindern ist Oberösterreich Schlusslicht - wegen der geringen Zuschläge für Kinder.
  • Während die Sanktionen für Sozialhilfebeziehende im Bundesdurchschnitt von 2022 auf 2023 um 10,2 % gesunken sind, stiegen sie in Oberösterreich um 66,2 %.
  • 9,8 % der Sozialhilfebeziehenden in Oberösterreich sind älter als 65 Jahre. Das ist der mit Abstand höchste Wert aller Bundesländer. In OÖ haben also fast 10 % der Sozialhilfebeziehenden es nicht geschafft, ausreichende Pensionsversicherungszeiten zu erwerben.
  • Besonderes Augenmerk: Frauen in der Sozialhilfe – die Armut ist überwiegend weiblich, besonders in OÖ
    • In Oberösterreich ist der Anteil der volljährigen Frauen in Sozialhilfebezug mit 58,3 %, ausgeprägt hoch. Im Österreichdurchschnitt waren dies 51,3 %.
    • Der Anteil der Alleinerzieher:innen an allen Sozialhilfebezieher:innen ist in OÖ mit 38 % eindeutig am höchsten von allen Bundesländern. Alleinerziehende sind zu 83 % Frauen.
    • In OÖ gibt es im Bundesländervergleich den höchsten Anteil an SH-Bezieher:innen, die wegen fehlender Kinderbetreuung keinen Job annehmen konnten. Auch hier sind weitaus überwiegend Frauen betroffen. Oberösterreich soll laut Landesregierung auf dem Weg zum Kinderland Nr. 1 sein – ausreichende und passende Betreuungsangebote inklusive. Da fehlt noch ein ordentliches Stück.
  • Bei Analyse der auf die Sozialhilfe angerechneten Einkünfte wird ersichtlich, dass bei Arbeitslosengeld/Notstandshilfe bzw. bei Erwerbseinkommen in OÖ weniger zu holen ist. Dies deshalb, weil der Anteil jener SH-Bezieher:innen, die  AMS-Kund:innen bzw. neben dem Sozialhilfebezug auch noch erwerbstätig sind, geringer ist als im Bundesdurchschnitt.  Auf den ersten Blick verblüffend ist die Tatsache, dass dennoch in Oberösterreich der Anteil von Sozialhilfebezieher:innen mit anrechenbarem Einkommen mit Abstand am höchsten ist.  Auflösung: es handelt sich hier um sonstige angerechnete Einkunftsarten wie z.B. Unterhaltsansprüche. Das deckt sich mit meiner Wahrnehmung, dass die Verpflichtung, Ansprüche gegen Dritte - wie Unterhaltsansprüche - geltend zu machen und auch einzuklagen in Oberösterreich konsequenter verlangt wird als in anderen Bundesländern.

Steigende Armutsbetroffenheit

Betrachtet man die Entwicklung in größeren Zeiträumen (2017 – 2023), kommt man zu interessanten Erkenntnissen:

  • Die Anzahl der Personen in Sozialhilfe/Mindestsicherung verringerte sich in OÖ am stärksten im Vergleich mit allen Bundesländern um 63,7 %. Im Österreichdurchschnitt gingen die Zahlen um 20,8 % zurück.
  • Die Ausgaben für die Sozialhilfe/Mindestsicherung sanken im Vergleichszeitraum in OÖ um 40 %, während österreichweit ein Anstieg um 12,8 % zu verzeichnen war.

Nun kann man Statistiken auf unterschiedliche Weise interpretieren. Die Befürworter:innen eines strengen Regimes in Bezug auf die Gewährung der Sozialhilfe bzw. jene, die wenig Geld dafür verwenden wollen, werden diese Zahlen positiv interpretieren und von einem erfolgreichen Modell sprechen.

Ich bin der gegenteiligen Ansicht, denn offensichtlich versagt die Sozialhilfe als Instrument der Armutsvermeidung.

Laut Statistik Austria lag der Anteil der armutsgefährdeten Personen im Jahr 2023 bei 14,9 % der Gesamtbevölkerung Österreichs. Das sind 1.338.000 Menschen und ein leichter Anstieg gegenüber 2022 (14,8 % oder 1.314.000 Personen).

Ganz anders schaut es bei der Armutsbetroffenheit (erhebliche materielle und soziale Deprivation) aus. Hier gibt es einen dramatischen Anstieg: 2023 waren 336.000 Menschen armutsbetroffen (3,7 % der Bevölkerung), 2022 waren dies 201.000 Personen (2,3 % der Bevölkerung). Der Anstieg binnen eines Jahres beträgt 67 %! = 135.000 Personen. Auch in Oberösterreich sind immer mehr Personen armutsbetroffen (14.000: 2023; 8.000: 2022).

Die Zahl der Sozialhilfebezieher:innen in Österreich ist im gleichen Zeitraum bloß um 7.015 gestiegen. Die Sozialhilfe ist also weder hinsichtlich der Höhe der Leistungen (siehe oben EU-SILC-Armutsgefährdungsschwelle) noch hinsichtlich der Anzahl der einbezogenen Leistungsempfänger:innen ein taugliches Instrument einer wirksamen Armutspolitik.

Neugestaltung notwendig

Ich bin mir sicher, dass die Neugestaltung der Sozialhilfe auf der Agenda der neuen Bundesregierung sein wird. Das ist auch dringend erforderlich. Es ist wichtig, die unterschiedlichen Systeme, die es aktuell in den Bundesländern gibt, zu harmonisieren und zu vereinfachen. Und es ist unbedingt erforderlich, dass diese neue Sozialhilfe den Menschen einerseits ausreichende Unterstützung beim Weg aus dem Sozialhilfebezug bietet (z.B. in Erwerbsarbeit) und dass andererseits die Standards und Bedingungen der Inanspruchnahme ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Das beinhaltet neben ausreichender existenzieller Absicherung auch eine stärkere Berücksichtigung der Lebensumstände bei Mitwirkungsaufträgen der Behörde. Beispiel: ein Sozialhilfebezieher, der für seine Mobilität auf einen Rollator angewiesen ist, sollte in Zukunft nicht mehr auf Arbeitssuche geschickt werden – wie es in Oberösterreich vorgekommen ist.

Zur Harmonisierung und Vereinfachung der Sozialhilfe und zur armutsfesten Ausgestaltung mache ich jetzt einen Vorschlag, ohne ihn im Detail durchgedacht zu haben:

Verwenden wir doch die EU-SILC-Armutsgefährdungsschwelle und die dort festgelegten Multiplikationsfaktoren für Haushaltsangehörige als Standard für die Höhe der Sozialhilfeleistungen und verzichten dafür auf das Wirrwarr verschiedener Boni, Zuschläge, etc., die schwer verständlich und aufwändig in der Vollziehung der Sozialhilfe sind.

Das würde mehr Geld kosten. Ich betrachte das allerdings als sinnvolle und notwendige sozial- und gesellschaftspolitische Investition. Ich stimme dem Ökonomen Kurt Bayer vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) zu, der meint, dass auf das österreichische Budgetdefizit nicht kurzfristig mit einem Sparpaket reagiert werden sollte, sondern besser in den Sozialstaat zu investieren sei.  

Denn der Sozialstaat ist die eigentliche Infrastruktur für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozess – und nicht Nebenbedingung. Und ich meine: der durch Investitionen in den Sozialstaat geschaffene soziale Zusammenhalt ist das Schmiermittel in diesem Prozess.

Wenn das letzte soziale Netz in einer wohlhabenden Gesellschaft wie unserer nicht dafür verwendet wird, Menschen in einer existenziellen Notlage so abzusichern, dass ein menschenwürdiges Leben ohne Armut möglich ist, dann versagen Politik und Verwaltung. Sie versagt auch bei der Umsetzung des Oö. Sozialhilfegesetzes: § 1 (1) lautet: „Aufgabe der Sozialhilfe ist die Ermöglichung und Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens sowie die
damit verbundene dauerhafte Einbeziehung in die Gesellschaft für jene, die dazu der Hilfe der Gemeinschaft bedürfen.“

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