Der emeritierte Universitätsprofessor und ehemalige EU-Parlamentarier Josef Weidenholzer stellte politische und gesellschaftliche Veränderungen dar, die unseren Sozialstaat wesentlich verändern. Im Trend liegt nicht mehr, die Hand auszustrecken und zu unterstützen, sondern die Ellbogen auszufahren. Wie etwa Elon Musk, der Empathie als die grundlegende Schwäche der Gesellschaft versteht. Die Zahl von politischen Entscheidungsträger:innen mit ähnlicher Grundhaltung wächst und die Welt steht an einem historischen Wendepunkt, an dem der soziale Zusammenhalt nachhaltig beschädigt wird.
1985, im Jahr der Gründung der Sozialplattform, herrschte Aufbruchsstimmung, Fortschrittsglauben und Wachstum. Tatsächlich ist es damals so vielen Menschen wie noch nie gut gegangen und diese Menschen hatten das Gefühl, dass Solidarität und Leistung belohnt werden. Josef Weidenholzer erachtet es als hohe Staatskunst, wenn Politiker:innen wissen, dass ohne sozialen Zusammenhalt keine Sicherheit geschaffen werden kann.
Weidenholzer erläuterte aber auch systemische Mängel im Sozialstaat: Primär auf Geldleistungen fokussiert und mit paternalistischen Zügen bei der Entwicklung von Leistungen für und nicht mit Betroffenen. Das auf männliche Erwerbsarbeit fokussierte System („Male Breadwinner Model“), in dem Care-Arbeit keine vollwertige Arbeit mit Qualifikationsbedarfen darstellt, hatte ebenfalls Einfluss auf die Ausgestaltung des Sozialstaats.
Während der Ära Thatcher (GB) und Reagan (USA) wurde nach dem Sozialstaatsboom eine Gegenbewegung eingeläutet, die sich bis heute negativ auswirkt: Mehr privat, weniger Staat. Der Glaube, dass der „Markt“ es schon richten wird, war vorherrschend. Vielmehr ist das Austarieren des Wohlfahrtdreiecks (Markt, Gesellschaft, Staat) wesentlich.
Gleichzeitig wuchs der autonome Sektor mit losen Strukturen, in der Organisationen dann bald NPO oder NGO genannt wurden. Beides Negativdefinitionen, d.h. die Begriffe leiten sich davon ab, was man nicht ist oder sein will und nicht davon, was das eigene Selbstbild ist.
In Österreich löste die Initiative (Aktion 8.000) des verstorbenen Sozialministers Alfred Dallinger einen Gründungsboom aus, der auch Auswirkungen auf die Ausbildungsstätten hatte und z.B. Fachhochschulen entstanden oder ein Studium der Pflegewissenschaften. Zusammenschlüsse sind entstanden, die sich an Sektoren oder Fördergebern orientierten. Josef Weidenholzer sieht die Sozialplattform OÖ als Ausnahme bei diesen Zusammenschlüssen, weil sie so viele verschiedene Organisationen vernetzt, und auch als Mitgestalterin der Entwicklung der oö. Soziallandschaft.
Josef Weidenholzer war auch Vorsitzender der Berufsvereinigung von Arbeitgebern für Gesundheits- und Sozialberufe (jetzt: Sozialwirtschaft Österreich). Die Einführung des Kollektivvertrags im Jahr 2003 - nach sechsjähriger Verhandlungsphase - erachtete er als besondere Leistung, da dieser heute noch besteht und Lohndumping entgegenwirkt.
Nach der Jahrtausendwende wurde sozialstaatliche Politik immer mehr ausgedünnt und aktuell zeigen sich komplett neue Herausforderungen wie der Klimawandel mit seinen unvorstellbaren sozialen Folgen. Polykrisen wirken sich auch auf den Sozialstaat aus, der immer mehr unter Druck gerät. „Wem steht Hilfe zu?“ und „Wer erhält priorisiert Hilfe?“ werden zu zentralen Fragen. Das Zusammenleben verkommt zum Wettbewerb. 700.000 Menschen unterzeichneten im Jahr 2002 das Sozialstaatsvolksbegehren, das ein Verankerung des Sozialstaats in der Verfassung und eine Sozialverträglichkeitsprüfung bei Gesetzesentwürfen forderte. Ob es so eine breite Unterstützung für ähnliche Anliegen heute geben würde, zog Weidenholzer in Zweifel.
„Aber gerade in dieser Phase ist ein Zusammenschluss der Zivilgesellschaft wichtig und die Sozialplattform OÖ als Akteurin mit hohem Erfahrungswissen spielt hier eine wichtige Rolle“, betonte Weidenholzer.
Seinen Vortrag beendete Josef Weidenholzer mit einem Zitat von Stefan Zweig: "Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern."